Stadtführung: Handel früher und heute
Frauengeschichtswerkstatt und Faire Welt / Weltladen gingen auf Spurensuche
„Nichts wie hin…“ warb der Gäubote für die Veranstaltung und viele kamen. Wegen strömenden Regens wurde der Rundgang in die Spitalkirche verlegt. Fast 50 Teilnehmende verfolgten die Spielszenen des „Rundgangs“. Mit den auf die Leinwand projizierten Bildern, den eindrücklichen Szenen und Musik aus Lateinamerika schafften es die Darsteller*innen, die Zuschauenden mitzunehmen und zu begeistern.
Die beiden Veranstalter betrachten die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven: Die Frauengeschichtswerkstatt sucht seit fast 20 Jahren nach Spuren, die Frauen in der Herrenberger Geschichte hinterlassen haben. Der Verein Faire Welt betrachtet die Handelsgeschichte in Herrenberg aus der Perspektive der Menschen in Ländern des globalen Südens.
So zeigten die Spielszenen zunächst das Handelsleben im 17. und 18. Jahrhundert, dann im frühen 20. Jahrhundert und schließlich schlossen sie die 50-jährige Geschichte des Weltladens mit ein.
Los ging es mit einer Einführung zum Marktplatz, auf dem von Beginn an geschäftiges Markttreiben herrschte. Traditionell war der Marktplatz die erste Adresse der Stadt. Hier lebten die vornehmsten und reichsten Bürger sowie die Familien, die politischen Einfluss hatten. Der Marktplatz war auch das Domizil der wohlhabenden und einflussreichen Handelsleute. Zu ihnen gehörte die Handelsfamilie Khönle, zu der es eine erste Spielszene gab.
Die Magd Maria, gespielt von Sonja Klaus Condo, erzählte über die Familie, das Geschäft, die Bedeutung der Frauen in Handelsfamilien und das weitgespannte Netz der Handelsbeziehungen. Die Familie nutzte die Zeit des Wiederaufbaus des im Dreißigjährigen Krieg zum großen Teil zerstörten Landes, um ihr Geschäft aufzubauen und das Warenangebot allmählich zu erweitern.
Beispielsweise wurden beim Hausbau dringend Eisennägel benötigt. Ohne die tatkräftige Unterstützung ihrer Ehefrauen, Töchter und Mägde wäre der Familie dieser Aufstieg allerdings nicht so ohne Weiteres gelungen. Die Ehefrau war oft auch für die Buchhaltung zuständig und musste die Geschäfte weiterführen, wenn der Mann auf Reisen war. Handelsbeziehungen bestanden mit vielen Städten in Deutschland und Nachbarländern. Durch diese Beziehungen konnte man Ende des 17. Jahrhunderts hier in Herrenberg nicht nur Eisenwaren, sondern auch Tabak aus Guyana, Zinn aus Indien, Weihrauch und Gewürze aus Indien und arabischen Ländern, türkische Schnüre, Porzellan aus China und Kaffee aus Java kaufen. Globalisierung ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Handel ist schon seit Jahrhunderten global. Man kann annehmen, dass die Familie wusste, aus welchen Ländern die Waren kamen, aber nicht, wie die Waren produziert wurden und wie die Lieferkette aussah. Mit den Eroberungen, der Kolonisierung und der Versklavung konnten Kolonialwaren günstig nach Europa gelangen, wovon viele hier profitierten.
In der zweiten Szene ging es um das Geschäft „Karl Bellon – Kaffeerösterei und Feinkost“ in der Stuttgarter Straße 24 und 26. Dort unterhielten sich die ehemalige Inhaberin Anna Reichle (Christa Tesch) und ihre Schwiegertochter Annemarie Reichle (Antje Matthäus), die das Geschäft seit 1950 zusammen mit ihrem Mann Hugo führte. Gegründet wurde es 1879 von Carl Bellon, dem Vater von Anna Reichle, dessen Name bis zuletzt Teil des Firmennamens blieb.
Carl Bellon gelang es, sich zum erfolgreichen Kaufmann hochzuarbeiten (ähnlich wie 200 Jahre vor ihm Hans Jakob Khönle). Er begann mit seinem Zigarrenhandel im Haus seiner Eltern in der Badgasse. In den 1880er/1890er Jahren erwarb er die Häuser in der Stuttgarter Straße und legte damit die Grundlage für einen florierenden Gemischtwarenladen, der 1914 um eine Kaffeerösterei erweitert wurde. Dass das Geschäft über 100 Jahre bestehen sollte, war zu einem großen Teil das Verdienst der beiden Frauen.
Das Kaffeegeschäft handelte überwiegend mit Hotels und Restaurants im Nordschwarzwald, u. a. mit dem Hotel Bareiss in Baiersbronn/Mitteltal. Für die großen Kaffeemaschinen wurde der Kaffee gemahlen, portionsweise in Tüten gepackt und dann ausgeliefert. Der Rohkaffee wurde bei einer Firma in Hamburg bestellt. Er kam aus Brasilien (Robusta), Honduras, Guatemala, Costa Rica und später Kenia (Arabica). An den Kaffeeduft, der an den Tagen, an denen Hugo Reichle Kaffee röstete, durch die Herrenberger Altstadt zog, erinnern sich viele Herrenbergerinnen und Herrenberger bis heute. Am beliebtesten waren der Mokka und die Herrenberger Mischung.
In der dritten Szene erinnerten sich Gründer*innen des Vereins Faire Welt an die ersten Jahre. Es spielten Klaus Holzäpfel, Uli Potreck, Katja Klaus und Andrea Stöffler. Der Weltladen, der 1974 in der Stuttgarter Straße 6 eröffnet wurde, verkaufte auch von Beginn an Kaffee. Die Kolonialisierung und Ausbeutung des globalen Südens trugen zum wachsenden Reichtum und zur wirtschaftlichen Entwicklung des globalen Nordens wesentlich bei.
Sie hat sich in Welthandelsstrukturen niedergeschlagen, die zum Teil heute noch bestehen. Diese Erkenntnis bewog Menschen in Herrenberg, am 6. März 1974 den Verein Faire Welt zu gründen. Im Vergleich zu der Zeit der Handelsfamilie Khönle und auch noch zur Zeit der Gründung der Kaffeerösterei Bellon hatte sich in den 1970er Jahren jedoch etwas Grundlegendes verändert: Unabhängige und fundierte Informationen über die Produktions- und Handelsbedingungen von Kaffee, Kakao, Tee, Bananen und auch Textilien wurden für eine breite Bevölkerung zugänglich.
Der Wunsch, diese Informationen über Ausbeutung und die kolonialen Kontinuitäten weiterzugeben, war eine starke Motivation der Gründer*innen des Weltladens. 40 Personen waren an der Gründung beteiligt oder sind in der Gründungszeit Mitglieder geworden. Sie kamen aus Herrenberg und dem ganzen Gäu, unter ihnen war auch der spätere Bundespräsident Horst Köhler und seine Frau Eva.
„Wir wollten etwas Konkretes machen, nicht nur diskutieren. So haben wir entschieden, Verein und Laden zu gründen.“ Aber wie sollte man das anpacken? Die Gruppe hat an Erhard Eppler, den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, geschrieben und Antwort erhalten. Das Ministerium meinte, „dass ihr eigenes Öffentlichkeitsreferat nur wenige Menschen erreicht, und dass man die Menschen nur über solche Initiativen wie die unsrige erreichen könne.“
„Wir hatten farbenfrohe Pullover, Ponchos und Decken aus Bolivien im Angebot. Sie wurden über Kontaktpersonen direkt importiert. Bald hatten wir und unsere Familien diese Pullover und Ponchos an und Herrenberg war ein großes Stück bunter geworden.“ – „Allerdings! Der ganze Raum in der Stuttgarter Straße 6 war mit Wollgeruch gefüllt“, erinnerten sich die Gründer*innen.
Der erste Weltladen-Kaffee kam aus Guatemala. Kurze Zeit später folgte der berüchtigte Kaffee aus Nicaragua: Sandino Dröhnung. „100 % Arabica, dunkel geröstet, mit Geschmacksnoten von Bitterschokolade und dunklen Früchten. Der hat wach gemacht. Augusto César Sandino war der Gründer der Befreiungsbewegung der Sandinisten in Nicaragua. Daher der Name des Kaffees.“ Und dann kam die Jutetasche, „Jute statt Plastik“ wurde unser Slogan.
Die Spielenden erinnerten sich an die fremden Gerüche im Lädle, eine Mischung aus Wolle, Gewürzen, Korbwaren, Ölofen und Feuchtigkeit … und daran, wie sie oft gefroren haben. Heroisch war es damals, dort zu verkaufen. Trotzdem hat es Spaß gemacht! Manchmal war es auch frustrierend. Manche Kunden haben ausgesehen, als hätten sie sich verirrt. Dann haben sie schnell ein Päckchen Kaffee gekauft und sind verschwunden. Manchmal hat stundenlang keiner reingeschaut ins Lädle.
Horst Köhler hat den Verein mitgegründet und immer Kontakt gehalten. Keine sechs Monate nachdem er Bundespräsident geworden war, hat er den Weltladen besucht. „Diese 47 Minuten mit dem Bundespräsidenten, die vergisst keiner von uns.“ Horst Köhler ist auch an den Themen drangeblieben, die uns seit damals alle bewegen. So wurde er 2012 von den Vereinten Nationen gemeinsam mit 26 weiteren Persönlichkeiten aus aller Welt in ein Gremium zur Erarbeitung der Agenda 2030 berufen. 2015 wurde die Agenda mit 17 Zielen für eine weltweit nachhaltige Entwicklung von der UNO verabschiedet. Das Herrenberger Leitbild 2035 bezieht sich explizit auf diese Ziele, zu deren Erreichung der Faire Handel maßgeblich beiträgt.
Nach fast 48 Jahren ist der Weltladen schließlich an den Herrenberger Marktplatz gezogen. Der Wunsch, die gute Idee des Fairen Handels auch einem neuen Personenkreis näher zu bringen und „sichtbarer“ zu werden in der Stadt, die inzwischen Fairtrade Stadt geworden war, hat uns dazu ermutigt. Der Weltladen war dann auch das letzte Ziel des „Rundgangs“ – hier gab es zum Abschluss leckere faire Snacks und Getränke.
Claudia Nowak-Walz von der Frauengeschichts-werkstatt und Martin Petry vom Verein Faire Welt führten die Zuschauer*innen durch die Geschichte. Musikalisch begleitet wurden die Szenen von Klaus Holzäpfel (Gitarre), Brigitte Strassner (Cajon) und Christlinde von Keler (Flöte). Die Beteiligten und die Gäste waren sich einig, dass diese „Stadtführung“ eine Fortführung verdient.
Fotos: Marlise Sifrig und Claudia Duppel
Dankeschön an alle Engagierten, die zu dieser tollen Veranstaltung beigetragen haben!